Kunstanalyse: Harald Kunde über Neo Rauch

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Kunstanalyse: Harald Kunde über Neo Rauch
Kunstanalyse: Harald Kunde über Neo Rauch

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Anonim

Im Jahr 2013 zeigte das BOZAR in Brüssel, Belgien, die Arbeiten des deutschen surrealistischen Künstlers Neo Rauch in der Ausstellung Neo Rauch Die Besessenheit des Demiurgen. Harald Kunde, der Kurator der Ausstellung, bietet seinen fachmännischen Einblick in einige von Rauchs Werken und ermöglicht so eine tiefere Wertschätzung der Arbeit dieses großartigen Künstlers.

Eine Einleitung

Die Ausstellung des Leipziger Künstlers Neo Rauch (* 1960) im BOZAR umfasst vierzig großformatige Gemälde und eine Gruppe beispielhafter Zeichnungen. Es bietet tiefe Einblicke in ein faszinierendes zeitgenössisches Oeuvre, indem es Schlüsselphasen seiner Entwicklung von 1993 bis 2012 in umgekehrter chronologischer Reihenfolge darstellt.

Auf den ersten Blick wirken die Bilder rätselhaft, hermetisch in sich geschlossen und auf seltsame Weise unzeitgemäß. Surrealistische Erzählstrategien, die die Bereiche Traum und Unbewusstes behandeln, erzeugen eine visuelle Explosion. Die abgebildeten Figuren scheinen eher aus alten Büchern als aus dem tatsächlichen Alltag zu stammen; Ihre Tendenz, in historischen Kostümen zu erscheinen, torpediert zusätzlich jede lineare Chronologie und verleiht vielen Werken den Charakter von Zeitmaschinen, die in einer Endlosschleife gefangen sind. Die eng hintereinander versetzten Bildräume, die starke allegorische Ladung der stufenartigen Tableaus sorgen dafür, dass diese Gemälde keineswegs leicht verständlich sind. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch ein Gefühl tiefer Unsicherheit in Bezug auf den Zustand der Welt im Allgemeinen und den unveränderlichen inneren menschlichen Zustand im Besonderen, unsere Schwingung zwischen den Polen des Göttlichen und des Tieres, unsere grundlegende Begabung Täter und Opfer gleichermaßen sein. Es ist die existenzielle Erfahrung des Umbruchs soziokultureller Systeme, die Rauch zugrunde liegt und seine Relevanz und Aktualität über den Zeitgeist und weit über den ost- / westdeutschen Hintergrund hinaus verleiht.

Ausgewählte Werke

Zähmung (Zähmung) - 2011

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Die linke Seite wird von einer Giraffe dominiert, die in einer Umgebung mit geschäftigen Aktivitäten völlig fehl am Platz steht. Im Hintergrund wird ein Haus abgerissen, und davor beleuchtet ein Fackelträger die Dunkelheit einer Bühne; Noch mehr im Vordergrund verkörpert eine stolpernde und kletternde Figur ihr jeweiliges Schicksal. Es gibt jedoch zwei Figuren, die in direkter Beziehung zu dem großen Tier stehen: ein Mädchen, das seine Hände bequem um den Hals legt, und ein strenger Tierbändiger, der die Zügel greift, um die Giraffe zu domestizieren. Diese konkurrierenden Ansätze zur Zähmung werden in der rechten Bildhälfte aufgegriffen und in einer kastenförmigen Hütte gespiegelt, in der offenbar eine Befragung stattfindet. Selbst in einer ländlichen Umgebung wie dieser ist das Beben durch drohende Unruhen auf allen Ebenen zu spüren. Die daraus resultierende Unsicherheit und die kollektive Tendenz, einen Sündenbock zu finden - auch wenn es sich zufällig um eine Giraffe handelt - liegen der gesamten Szene zugrunde und damit dem Muster einer Herausforderungs- und Bewältigungsstrategie, die keineswegs nur deutsch ist. Wer letztendlich als Sieger aus diesem Tumult hervorgeht und ob der Außerirdische jemals einen Platz in der hier auftauchenden Gemeinschaft finden wird, bleibt natürlich offen.

Versprengte Einheit - 2010

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Wir finden Figuren, die an der Schwelle zwischen militärischem Habitus und Narrenmütze liegen. Sie entsprechen dem Typ eines erschöpften und desillusionierten Helden, der zur Essenz des postmodernen Lebensgefühls geworden ist. Mit kindlicher Erwartung manipulieren die Figuren Feuerwerkskörper, die sich jederzeit in scharfe Munition verwandeln können, und verleihen der Szene zusammen mit der fliegenden Bombe im Hintergrund eine latente Bedrohung. Von dort rückt der Künstler von seinem Arbeitsplatz an der Staffelei in den Vordergrund der Erzählung und verändert die für seine Praxis typischen Realitätsebenen.

Revo - 2010

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Dieses Gemälde zeigt eine ungebrochene Parade sehr unterschiedlicher Protagonisten, die wie am Fließband durch den Bildraum zu gleiten scheinen und dabei in autistischer Isolation bleiben. Jeder verfolgt seine eigene Agenda, die nichts mit der der anderen gemein hat, und verwandelt die Landebahn letztendlich in eine Bühne für Schauspieler, die sich selbst verkörpern. Nur die Kinder im Treppenhaus links sind zu gemeinsamen Aktionen bereit. Ihre eingefügten „Revo“ -Slogans erinnern anscheinend an die Überreste eines ehemaligen revolutionären Pathos. Die Rebellion hat sich in den Kostümraum der Geschichte zurückgezogen; Was bleibt, ist das übliche Rollenspiel.

Der Vorhang - 2005

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Das exotische Naturreich der südpazifischen Inseln kollidiert mit einem europäischen Gesellschaftsreich voller prägnanter Referenzen, da die Trennwand zunächst zu einem Vorhang mutiert und sich dann vollständig auflöst. Es wird eine weltumfassende Gleichzeitigkeit paralleler Ereignisse hervorgerufen, die der gegenwärtigen globalen Interdependenz entspricht und scheinbar dem flachen Kontinuum eines konventionellen Gemäldes widerspricht. Dank des braunen Zauberers in der Mitte rechts wird jedoch alles möglich. Als Alter Ego des Künstlers erkundet er mit seinen Instrumenten - seinen Pinseln - den offenen Bauch eines Schwertfisches und schafft so eine Fülle von Innenszenen, die über alle rationalen Gründe hinausgehen. Erschöpfte Soldaten trauern mit Girlanden um ihre gescheiterte Mission; Eine harte Unterrichtsszene am rechten Rand erinnert an die Sozialisationsrituale einer längst vergangenen Schule. und ein Trommelmajor ohne Unterkörper zeigt auf Bereiche ruhiger ästhetischer Beobachtung in den hinteren Reihen. All dies wird durch den oben erwähnten Schwertfisch zusammengebracht, der nach einer Reise durch alle Barrieren und linearen Konstrukte von Raum und Zeit wie am anderen Ende der Welt wieder auftaucht. Eine Verdichtung solcher Metamorphosen löst ein Gefühl von existenziellem Schwindel, eine Verwirrung von Kategorien und mentalen Gewissheiten aus. Rauch selbst hatte diese Sensation wahrscheinlich seit Anfang der 2000er Jahre erlebt, als der aufkeimende Kunstmarkt diesen kontemplativen Einzelgänger aufnahm, die Wartelisten für noch zu malende Bilder verlängerten und die Ruhe des Ateliers zunehmend dem Opfer geopfert werden musste Verpflichtung zum öffentlichen Auftritt.

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